Archiv der Kategorie: Leid

Was können Sie sagen, wenn ein ukrainischer Bischof in Kiew fragt: „Hat Gott uns vergessen“ ?

„Bei einem Besuch bei Führern vieler Religionen haben wir so viel Mut gesehen, aber auch so viel, das selbst den stärksten Glauben auf die Probe stellt.“ Paul M. Zulehner aus Kiew

https://zulehner.wordpress.com/2023/03/03/was-konnen-sie-sagen-wenn-ein-ukrainischer-bischof-in-kiew-fragt-hat-gott-uns-vergessen/

Paare: Eigentlich wollten wir glücklich sein

„Eigentlich wollten wir einfach glücklich sein, aber wir konnten nicht miteinander reden.“ Dieser Satz eines Paares, das sich trennte, war für den Paartherapeuten Michael Lukas Moeller „der typische Abgesang der heute allseits belasteten Beziehungen“ [1]. Er empfiehlt Zwiegespräche einmal in der Woche, in denen die Partner über sich selbst reden, nicht über den anderen, nicht über die Verwaltung des Alltags. Paare machten die Erfahrung, dass sie durch Zwiegespräche glücklicher werden können.
Ein Zwiegespräch beginnt Jesus mit seinem Vater. Er führt es vor Zuhörern und er beginnt mit der Beschreibung von dem, was er gern macht, für Menschen zu bitten: „Ich bitte nicht nur für diese hier, sondern auch für alle, die durch ihr Wort an mich glauben.“ Er wünscht sich, dass sie sich nicht bekämpfen, sondern eins sind. Jesus spürt, dass die Beziehung zwischen ihm und dem Vater einzigartig ist. Er sagt: „Du, Vater, bist in mir und ich bin in dir.“ Er fügt dieser guten Empfindung hinzu, dass auch die Menschen, die an ihn glauben, in dieser Beziehung von Vater und Sohn sein sollen. Er möchte, dass wir Menschen ganz von Gott durchdrungen werden.
Das kann – so die Erfahrung – gelingen, wenn er uns seinen Heiligen Geist schenkt. Dann können wir in den Beziehungen gut über uns selbst reden, bitten, seufzen und uns freuen. Geteiltes Leid wird halbes Leid und geteilte Freude wird doppelte Freude.


[1] Michael Lukas Moeller, Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch
Das Zwiegespräch wird im katholischen Gottesdienst am nächsten Sonntag aus dem Johannesevangelium vorgelesen. Johannes 17,20-26

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Der Sieg über den Tod

Ich möchte diese heiligen Tage mit Jesus gehen. Er begleitet mich und geht mit mir in meine tiefste Verzweiflung. Mit ihm kann ich seine Verlassenheit in Jerusalem und die Verlassenheit der Menschen um mich herum wahrnehmen. Mit ihm kann ich alles vor unseren Gott-Vater hinlegen: Mein freudig pochendes Herz, mein Leiden und meine Schmerzen. Ich sehne mich mit ihm nach Heilung. Die Welt soll geheilt werden.

Die Beziehungen sollen geheilt werden. Die Ängstlichen sollen Mut fassen. Ich sehne mich danach, dass die Finsternis der Gottferne mit dem Licht des Glaubens erhellt wird. Ich möchte, dass alle Menschen nicht nur nach dem Tod eine Auferstehung erfahren, sondern in der Gegenwart. Die Auferstehung schenkt Gott jetzt. Ich kann mit Jesus auferstehen und ein neues Leben beginnen. Ja, mit ihm werde ich mutig und – froh.

Himmel! Es ist Krieg

Der Einmarsch des russischen Heeres am 24. Februar 2022 in die Ukraine veränderte alles. Der Friede ist vorbei. Der Krieg begann aber schon 2014 mit dem Überfall auf die Krim und die Städte Lugansk und Donezk. Jetzt erkennen wir, dass diese Verletzung des Völkerrechts viel stärker geahndet hätte werden müssen. Die schwachen Sanktionen reizten Putin, einen größeren Krieg zu beginnen. Lange haben wir uns über den Frieden unterhalten, aber das Phänomen Krieg nicht beachtet. Das geschah auch aus Angst, dass der Krieg beginnt. Diese Angst müssen wir überwinden und uns fragen: Was ist das Phänomen Krieg? Ein Versuch der Annäherung.

Der Krieg ist eine Gewaltausübung des Menschen, bei dem Territorien erobert werden. René Girard sieht beim Lesen des Buches von Clausewitz[1], dass der Verteidiger den „Krieg beginnt und zugleich beendet.[2]“. Er sieht, dass der Angreifer etwas begehrt, was der andere besitzt. Diese Gier entsteht aus der Nachahmung des Gegners, der sein Land liebt. Diese Liebe wird nachgeahmt. Der Angreifer begehrt das Land, fällt in das Land ein und muss mit Widerstand rechnen. Ein Angriff auf ein Land, das sich nicht verteidigt, ist kein Krieg, sondern ein Raubzug. Wobei bei einem Raubzug auch Gräuel vorkommen. Krieg ist also Angriff und Verteidigung.

Marc Chagall, Krieg, 1966

Diese Auseinandersetzung wurde versucht durch Gesetze zu regeln. Im Kriegsrecht[3] dürfen Gegner, „Kombattanten“ angegriffen werden, aber nicht Zivilisten. Wer unbewaffnete Zivilisten verletzt oder tötet, begeht ein Kriegsverbrechen. Soldaten müssen mit Abzeichen wie Armschleifen erkennbar sein.

Clausewitz und Girard sehen im Krieg eine Dynamik der Zerstörung „bis zum Äußersten“. Wenn der Hass, die Leidenschaften groß und größer werden, werden ganze Städte dem Erdboden gleichgemacht, Menschen gefoltert und vergewaltigt. Im Krieg herrscht weniger Vernunft, sondern viel mehr Gewalt und Leidenschaft.

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Warum Leiden?

Leiden ist ein Zumutung. Wie ich mir die biblischen Texte zum letzten Sonntag angesehen habe und dann im Gottesdienst gehört habe, ist mir aufgefallen, dass es vor allem im Jesaja-Text eine Auffassung von Schuld und Leiden auftaucht, die ich ablehne. Schuld ist kein Gegenstand, kein Paket, das ich mit Arbeit oder Leiden abarbeiten kann.

Im Alten Testament werden die Katastrophen der Geschichte des Volkes Israel als Folge der Schuld und des Fehlverhaltens erklärt. Auch Personen, die leiden, sind selber schuld. Es gibt dagegen wie bei Hiob eine Reflexion, die zeigt, dass Unschuldige leiden. Auch in den sogenannten Gottesknechtliedern beim Propheten Jesaja wird diese Form der Erklärung des sogenannten Tun-Ergehen-Zusammenhangs, kritisiert. Der unschuldige Gottesknecht übernimmt die Schuld der anderen in seinem Leiden und kann die anderen von der Schuld erlösen. Diese Erklärung wird dann auch von einigen in der jungen Kirche auf Jesus übertragen. Bei Markus 10,45 steht: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“ Das Lösegeldmotiv wurde dann auch auf das Gefängnis der Schuld übertragen. Damals gab es Schulden-Gefängnisse oder Schuldsklaverei, wo Lösegeld notwendig war, um die Menschen daraus zu befreien. Aber wenn Jesus nicht mit Geld, sondern mit seinem Leben bezahlt, um andere von Schuld zu befreien, dann ist das keine wirtschaftliche Schuld, sondern eine Schuld gegenüber Gott und Gott wird zum Gefängnisaufseher. Sein Sohn soll durch sein Leben als Lösegeld die Gefängnisinsassen befreien. Das ist aber absurd. Gott könnte die Gefangenen einfach entlassen und sein Sohn müsste nicht sterben. Diese Erklärung ist mit der Botschaft Jesu von Gottes Verzeihen nicht gedeckt. Befreiung geschieht bei Jesu Handlungen und Heilungen als Befreiung von Angst und Einsamkeit.

Es stellt sich die Frage: Warum ist Jesu Leiden, sein Tod, seine Auferstehung und seine Geistsendung eine Befreiung? Der Hebräerbrief bringt uns auf eine Spur, die Licht ins Dunkel bringt: „Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat.“ (Hebräer 4,15)

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Gott leidet in Solidarität mit uns

Bei einer Gerichtsverhandlung wird Gott angeklagt. Die Situation ist fiktiv.

Am Ende der Zeit versammelten sich Millionen Menschen auf einer riesigen Ebene vor dem Thron Gottes. Viel schauten ängstlich in das helle Licht, das ihnen entgegen strahlte. Aber es gab auch einige Gruppen von Menschen, die sich hitzig miteinander unterhielten. Die Umgebung schien sie nicht zu beeindrucken.

„Wie kann Gott über uns zu Gericht sitzen? Was versteht er schon von unserem Leiden?“ fauchte ein Mädchen und zeigte eine tätowierte Nummer aus einem Konzentrationslager.

Aufgeregt rief ein junger Mann: „Gelyncht wurde ich nur darum, weil ich schwarz bin. In Sklavenschiffen hat man uns erstickt. Wie Tiere mussten wir arbeiten – bis uns der Tod die Freiheit schenkte.“

Überall auf der Ebene wurden jetzt die ärgerlichen Stimmen laut. Jeder richtete klagen an Gott, weil er das Böse und das Leiden in der Welt zugelassen hatte. Wie gut hatte es Gott im Himmel, in all der Schönheit und Heiligkeit zu wohnen. Ja, konnte sich Gott überhaupt vorstellen, was der Mensch auf der Erde erdulden musste?

Es bildeten sich Gruppen, und jede wählte einen Sprecher. Immer war es derjenige, der am meisten gelitten hatte. Da war ein Jude, eine Schwarze, ein Inder, eine Uneheliche, ein Krebskranker, ein Opfer aus Hiroshima und jemand einem Lager in Sibirien. Sie alle waren sich darin einig, dass Gott, bevor er sie richten dürfte, selbst alle Leiden erdulden sollte, die sie erduldet hatten. Ihr Urteil lautete:

Gott sollte dazu verurteilt werden, auf der Erde zu leben – als Mensch!

Aber da Gott ja Gott war, hatten sie bestimmte Bedingungen gestellt. Er soll keine Möglichkeit haben, aufgrund seiner göttlichen Natur sich selbst zu helfen. Und dazu hatten sie sich folgendes ausgedacht:

Er sollte als Jude geboren werden. Die Legitimität seiner Geburt sollte zweifelhaft sein. Niemand sollte wissen, wer der Vater war. Er sollte versuchen, den Menschen zu erklären, wer Gott sei. Er sollte von seinen engsten Freunden verraten werden. Er sollte aufgrund falscher Anschuldigungen angeklagt werden, von einem voreingenommenen Gericht verhört und von einem feigen Richte verurteilt werden.

Schließlich sollte er selbst erfahren, was es heißt, völlig allein und verlassen von den Menschen zu sein. Er sollte gequält werden und dann sterben. Und das sollte in aller Öffentlichkeit geschehen und zwar so schrecklich, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er wirklich gestorben war. Dazu sollte es eine riesige Menge von Zeugen geben.

Während jeder Sprecher seinen Teil des Urteils verkündigte, erhob sich ein großes Raunen in der Menschenmenge und als der letzte gesprochen hatte, folgte ein langes Schweigen.

Alle, die Gott verurteilt hatten, gingen leise fort. Niemand wagte mehr zu sprechen, jeder war sich seiner Sünde bewusst. Denn plötzlich wussten alle: Gott hatte die Strafe in der Gestalt Jesu schon auf sich genommen.

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Ich finde, Gott hat keine Strafe auf sich genommen, sondern ist seinen Weg der Solidarität gegangen. Und der Heilige Geist war dabei.

„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34)
„Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43)
„Frau, siehe, dein Sohn!“ und: „Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26-27)
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mk 15,34; Mt 27,46)
„Mich dürstet.“ (Joh 19,28)
„Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30)
„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23,46)

Abwesenheit von Evidenz ist nicht Evidenz von Abwesenheit. Etwas einfacher ausgedrückt: Wenn man etwas nicht findet, bedeutet das nicht, dass es nicht existiert. So ist es auch bei Gott. Wenn man Gott nicht findet, bedeutet das nicht, dass er nicht existiert. Wenn hingegen Gott sich offenbaren möchte, so stellen sich diese Fragen: Wie kann er das tun ohne unsere Freiheit einzuschränken? Wie können wir Menschen den Unterschied bemerken, ob das die Offenbarung ist oder eine Erscheinung der Dinge dieser Welt sind? Brauchen wir dazu den Heiligen Geist?

Ich bin zur Karikatur geworden

Mein Gott, mein Gott – warum hast Du mich verlassen?
Ich bin zur Karikatur geworden,
das Volk verachtet mich.
Man spottet über mich in allen Zeitungen.
Panzerwagen umgeben mich,
Maschinengewehre zielen auf mich,
elektrisch geladener Stacheldraht schließt mich ein.
Jeden Tag werde ich aufgerufen,
man hat mir eine Nummer eingebrannt
und mich hinter Drahtverhauen fotografiert.
Meine Knochen kann man zählen wie auf einem Röntgenbild,
alle Papiere wurden mir weggenommen.
Nackt brachte man mich in die Gaskammer,
und man teilte meine Kleider und Schuhe unter sich.
Ich schreie nach Morphium, und niemand hört mich.
Ich schreie in den Fesseln der Zwangsjacke,
Im Irrenhaus schreie ich die ganze Nacht,
im Saal der unheilbar Kranken,
in der Seuchenabteilung und im Altersheim.
In der psychiatrischen Klinik ringe ich schweißgebadet mit dem Tod.
Ich ersticke mitten im Sauerstoffzelt.
Ich weine auf der Polizeistation,
im Hof des Zuchthauses,
in der Folterkammer
und im Waisenhaus.
Ich bin radioaktiv verseucht,
man meidet mich aus Furcht vor Infektion.

Aber ich werde meinen Brüdern von Dir erzählen.

Auf unseren Versammlungen werde ich Dich rühmen.
Inmitten eines großen Volkes werden meine Hymnen angestimmt.
Die Armen werden ein Festmahl halten.
Das Volk, das noch geboren wird,
unser Volk,
wird ein großes Fest feiern.

Psalm 22, Ernesto Cardenal, Poet und Priester (1967)

Where Is God in a Pandemic?

Last summer I underwent radiation treatment. And every time I passed through the doorway marked “Radiation Oncology,” my heart seemed to skip a beat. While I was in little danger (my tumor was benign, and, yes, one sometimes needs radiation for that), I daily met people who were close to death.

Every weekday for six weeks I would hail a cab and say, “68th and York, please.” Once there, I would stop into a nearby church to pray. Afterward, walking to my appointment in a neighborhood jammed with hospitals, I passed cancer patients who had lost their hair, exhausted elderly men and women in wheelchairs pushed by home health care aids, and those who had just emerged from surgery. But on the same sidewalks were busy doctors, smiling nurses and eager interns, and many others in apparently perfect health.

To read: Where Is God in a Pandemic? By James Martin. Father Martin is a Jesuit priest and an author.

Weiße Wand: Was fehlt, wenn das Kreuz fehlt?

Das Kreuz ist mehr als ein kulturelles Zeichen. Gedanken zur Verbannung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum.

Jan-Heiner Tück, Universität Wien, schreibt in der „Presse“, was fehlt, wenn es kein Kreuz im öffentlichen Raum gibt (Auszug):

Soll das Kreuz hier zur Verteidigung des „christlichen Abendlands“ missbraucht und für eine bestimmte Identitätspolitik funktionalisiert werden? Das Kreuz sprengt diesen Rahmen. Es ist mehr als ein kulturelles Zeichen.

Das Kreuz ist Anstoß. Es macht sichtbar, was gern verdrängt wird. Es gibt das Leid, den Schmerz und den Tod. Die Erinnerung daran ist gerade in Spitälern hilfreich. Wie oft verschleiern Ärzte durch elaborierte Vokabulare ihren Patienten den wahren Zustand, weil sie meinen, dieser sei nicht zumutbar. Das Kreuz sagt: Wahrheit ist zumutbar. Statt sie in Zonen des Schweigens abzudrängen, muss sie ausgesprochen werden – schon um der Kranken willen.

Das Kreuz ist Spiegel. Es zeigt: Wir machen Fehler und brauchen Vergebung. Statt Vergeltung zu fordern, hat der Gekreuzigte seinen Peinigern verziehen. In einer Gesellschaft, in der alle perfekt sein wollen, ist das eine heilsame Provokation. Wir sind nicht perfekt. Aber wir verschleiern uns das – und sind Virtuosen darin, es nicht gewesen zu sein. Das läuft fast immer darauf hinaus, es andere gewesen sein zu lassen. Dieser Unschuldswahn ist pathologisch. Das Kreuz unterbricht ihn – und befähigt zu einer Kultur der Vergebung, die wir alle brauchen, um neu anfangen zu können.

Das Kreuz als Spiegel und Trost

Das Kreuz bietet Trost. Dafür haben wir fast die Sprache verloren. „Nur der leidende Gott kann helfen“, hat Dietrich Bonhoeffer geschrieben, bevor er hingerichtet wurde. Die Pointe christlicher Kreuzestheologie ist, dass sie Gott nicht nur in Kategorien der Stärke buchstabiert. Paradox gesprochen: Gott ist so stark, dass er auch schwach sein kann, er ist nicht apathisch, sondern hat sich in der Passion auf die Seite der Leidenden gestellt.

Das Kreuz ist Zeichen des Lebens. Auf die Nacht des Karfreitags folgt das Licht von Ostern – mit der Botschaft: Der Gekreuzigte lebt! Diese Hoffnung mag vielen unerschwinglich sein. Aber die Sehnsucht, dass unser Leben nicht im Abgrund des Nichts versinkt, sondern rettend aufbewahrt wird, bricht gerade in Grenzsituationen des Leidens auf. Das Kreuz sagt: Das Leben ist stärker als der Tod.

Diese Sinngehalte scheinen heute mehr und mehr zu verblassen. Das müsste den Kirchen einen Ruck geben. Alle, nicht nur Kleriker, auch bzw. vor allem Laien müssten unter der Asche der Gewohnheiten die Glut des Evangeliums neu entdecken. Soll das, was Generationen Orientierung im Leben und Sterben gegeben hat, heute etwa nichts mehr bedeuten?

Dabei ist nicht zu vergessen, dass die Kirche selbst Anteil am Plausibilitätsverlust des Glaubens hat. Immer wieder in der Geschichte hat sie das Kreuz als Herrschaftssymbol missbraucht. Eine aufgeklärte christliche Religionskultur weiß darum. Sie wird schon deshalb jeden Triumphalismus vermeiden, gerade im Gespräch mit Juden, Muslimen und Agnostikern.

Leben ist stärker als der Tod

Allerdings ist der Dienst an den Kranken selbst aus einer Kultur der Barmherzigkeit erwachsen, die dem Evangelium Entscheidendes verdankt. Das hat um 1900 ein agnostischer Intellektueller klar gesehen, der protestierte, als der liberale Säkularismus die Kreuze aus den Spitälern Uruguays entfernen wollte.

José Enrique Rodó (1871–1917) hatte ein waches Gespür dafür, dass etwas fehlt, wenn das Kreuz fehlt. Neben abstrakten Ideen, in denen sich eine Moral ausdrückt, brauche es sprechende Symbole, um eine Passion für moralische Wahrheiten freizusetzen. Im Kreuz sah er ein Modell für Mitleid und Hingabe, das auch Anders- und Nichtgläubigen etwas sagen kann.

Das Kreuz bietet Trost. Dafür haben wir fast die Sprache verloren. „Nur der leidende Gott kann helfen“, hat Dietrich Bonhoeffer geschrieben, bevor er hingerichtet wurde. Die Pointe christlicher Kreuzestheologie ist, dass sie Gott nicht nur in Kategorien der Stärke buchstabiert. Paradox gesprochen: Gott ist so stark, dass er auch schwach sein kann, er ist nicht apathisch, sondern hat sich in der Passion auf die Seite der Leidenden gestellt.

Das Kreuz ist Zeichen des Lebens. Auf die Nacht des Karfreitags folgt das Licht von Ostern – mit der Botschaft: Der Gekreuzigte lebt! Diese Hoffnung mag vielen unerschwinglich sein. Aber die Sehnsucht, dass unser Leben nicht im Abgrund des Nichts versinkt, sondern rettend aufbewahrt wird, bricht gerade in Grenzsituationen des Leidens auf. Das Kreuz sagt: Das Leben ist stärker als der Tod.

Mehr zu lesen: Weiße Wand: Was fehlt, wenn das Kreuz fehlt?
Jan-Heiner Tück, 25.02.2020, Die Presse

Gottesklage | Franz Schwald – Geschichten und Gedanken

Mein Gott, mein Gott! Mit diesem Klageruf habe ich schon oft in belastenden Situationen, in denen mich tiefe Not, Angst und Trauer erfüllte, um Hilfe gefleht. Es fällt ja manchmal schwer, das eigene Schicksal zu beklagen; vor allem in Situationen, in denen uns Gott ach so fern erscheint. Dann sind Texte der Heiligen Schrift, wie die Geschichte von Hiob, die Klagepsalmen bis hin zum Schrei Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!“, ermutigend, den eigenen Kummer auszusprechen, und Gott im Hilfe zu bitten. Dürfen wir doch im Glauben gewiss sein, dass unser Vater im Himmel uns nicht verlässt, wenn Trauer, Enttäuschungen und Einsamkeit uns bedrücken. Umso schmerzlicher ist es, dass auch ich manchmal in Stunden tiefer Betroffenheit nicht wagte, Gott meine Not zu klagen. Die Texte der Bachkantate „Ich hatte viel Bekümmernis“, berührten mich sehr und halfen mir, das Schweigen zu brechen:

Viel zu selten gelang es, über meinen Kummer zu reden.

Quelle: Gottesklage | Franz Schwald – Geschichten und Gedanken